Ich fliege

Ich fliege


Ich renne. Stufe für Stufe renne ich nach oben. Alle vierzig Stufen erscheint mir ein Schild, dass mir zeigt, welches Stockwerk ich bereits erreicht habe. Das Herz schlägt rasend und der Atem arbeitet auf Hochtouren. Poch, Poch, Poch. Ich kann jeden einzelnen Herzschlag fast hören. Er klingt wie eine Werksmaschine, die 100% ausgelastet ist. Der Blutdruck ist am Limit.

Und ich renne weiter. Wesentlich langsamer jetzt. Der 22 Stock ist erreicht. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir.

Fast wäre ich gerade gestolpert. Nur nicht hinfallen, denke ich mir und versuche mich zu konzentrieren. Stufe für Stufe. Warum renne ich eigentlich? Ich kann es nicht erwarten. Dieses Gefühl der Freiheit. Loslassen dürfen. Nichts mehr denken müssen. Für eine kleine Ewigkeit.


Der 30 Stock ist erreicht. Mach eine Pause, sage ich mir selbst, doch die Beine sträuben sich dagegen. Du packst das! Meine Hände klammern sich am Geländer fest und ziehen meinen gesamten Körper in Zusammenarbeit mit den Beinen weiter nach oben. 35 Etage sagt mir das Schild in dieser mintfarbenen Schrift. Jedes Stockwerk in einer anderen Farbe. Wie kreativ. Aber Kreativität ist hier und jetzt nicht gefragt. Ausdauer und Wille ist Fakt.


39 Etage! Fast geschafft. Oh, mein Gott. Langsam, aber zielsicher laufe ich fast traumatisiert jede einzelne Stufe hoch und zähle sie in Gedanken mit. Da ist die Tür. Eine große, fette 40 in leuchtendem Gelb zeigt sich mir. Geschafft. Wie hypnotisiert stehe ich vor der Tür. Meine Hand greift zum Griff. Welch ein Augenblick. Ich öffne langsam mit einem Strahlen im Gesicht die Tür und trete auf die Plattform des Hochhauses. Ein warmer Sommerwind weht mir ins Gesicht. Ich stehe für einen Moment nur da und atme die Luft ein, während sich die Herzschläge langsam beruhigen. Ich schließe die Augen für einen Moment und genieße nur, was ich höre.

Ich mache einen Schritt nach vorne. Meine Augen öffnen sich und ich sehe den Rand der Plattform. Schritt für Schritt nähere ich mich diesem. Dort angekommen mach ich einen weiteren Schritt und stelle mich auf die kleine Anhöhe. Der Atem der Stadt umgibt mich als lauwarmer Wind und ich überblicke die Metropole, die kein Ende zu haben scheint. Für einen Moment halte ich inne und meine Gedanken kreisen um mich herum wie Mücken. Die Anstrengung hat sich gelohnt. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich es schaffe. Der Weg ist bitter - das Ziel zuckersüß.


Das ist der Moment. Das ist MEIN Moment. Nur ein Schritt und ich darf die Kontrolle einfach fallen lassen. Ich zerplatze fast vor Freude. Noch ein letztes mal drehe ich mich um. Ich bin alleine.


Ich hebe meine Arme und wie von selbst macht mein Bein den erlösenden Schritt. Ich falle. Und während ich falle, lache ich aus vollem Herzen und mein Schrei ist ein Schrei der Freude. Ich gleite durch den Abend der Stadt. Ich gleite an den anderen Häusern vorbei und winke den Menschen zu, die mir lachend entgegen winken. Ich fliege so schnell, dass ich selbst nicht glauben kann, keine Angst zu haben. Keine Angst ist vorhanden. Nicht die geringste. Meine Augen sind weit geöffnet. Ich fühle die Freiheit in jeder einzelnen Zelle meines Körpers. Ich fliege. Ich verlasse die Stadt und schwebe hinweg. Dort, wo die Sonne untergeht setze ich mein Ziel. 

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